Ich doziere unter anderem das Fach PR an einer höheren Fachschule in St. Gallen und wundere mich immer wieder, wie viel Mühe junge Leute mit dem Verständnis von Texten haben. Mario Andreotti, Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Buchautor, veröffentlichte im St. Galler Tagblatt vom 26.07.2018 ein exzellentes Essay zum Thema «Frühdeutsch ist wichtiger als Frühenglisch», welches diese Problematik beleuchtet:

Frühdeutsch ist wichtiger als Frühenglisch
Eine neuere Studie des Kompetenzzentrums für Bildungsevaluation an der Universität Zürich kommt zu erschreckenden Ergebnissen: Von den 1500 Zürcher Primarschülern in der sechsten Klasse, die auf ihre Deutschkenntnisse hin befragt wurden, können nicht weniger als 36 Prozent «nur den Sachverhalt und die Zusammenhänge eines einfachen Textes verstehen». Weitere 15 Prozent bekunden bereits Mühe, «sobald aus dem Text mehr als einzelne Wörter und Zusammenhänge identifiziert werden müssen». Jeder zweite Schüler genügt nur knapp den Anforderungen, die auf der Sekundarstufe im Fach Deutsch gestellt werden. Dazu kommt, dass sich in der Sekundarschule 16 Prozent der befragten Schüler in diesem Fach völlig überfordert fühlen – doppelt so viele wie in der «ungeliebten» Mathematik. Da vermögen auch die oftmals, aus Angst vor einer klaren Wertung, viel zu hohen Noten im Fach Deutsch nicht darüber hinwegzutäuschen.

Stellt sich die Frage, welches die Gründe für diese sprachlichen Defizite unserer Schülerinnen und Schüler sind. Eine Frage, die keine einfache Antwort zulässt. So viel aber dürfte sicher sein: Mit der Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch wurde in zahlreichen Schulen die Zahl der Lektionen in den Kernfächern Mathematik und Deutsch deutlich reduziert, obwohl allseits bekannt ist, dass es zur Festigung der deutschen Sprache gerade in der Primarschule ausreichend Zeit braucht. Doch der Mangel an genügend Deutschunterricht ist nicht der einzige Grund für das sprachliche Malaise. Über ein Drittel aller Deutschschweizer Primarschüler spricht in der Schule ausschliesslich Mundart, wie eine Untersuchung des Bundesamtes für Statistik ergeben hat. Und dies obschon die Schulreglemente der meisten Kantone vorschreiben, dass der Unterricht auf der Primar- und Sekundarstufe, mit wenigen Ausnahmen, konsequent in der Standardsprache, also in Hochdeutsch, zu erfolgen hat.

Woran liegt es aber, dass die Wirklichkeit des Schulalltags anders aussieht? Vieles deutet daraufhin, dass es mit unserem schwierigen Verhältnis zur hochdeutschen Sprache zusammenhängt. So nah und doch so fern – so liesse sich dieses Verhältnis von uns Deutschschweizern zur Standardsprache umschreiben. Das gilt in besonderem Masse für unsere Jugendlichen. Sie betrachten Hochdeutsch zwar nicht als Fremdsprache, weil es irgendwie alltäglich sei, man es «einfach so» könne, wie sie häufig meinen. Trotzdem reden sie in der Schule nicht freiwillig hochdeutsch, sondern nur, wenn sie wirklich müssen. Das können wir ihnen nicht einmal übel nehmen, liegt ihnen der Dialekt doch einfach näher, ist er ihnen als «Wohlfühlsprache» vertrauter.

Wer hingegen die alte Scheu vor der hochdeutschen Sprache ablegen müsste, sind die Lehrerinnen und Lehrer. Es ist die leidige Erfahrung, dass viele Lehrpersonen im Unterricht ungern hochdeutsch sprechen und deshalb, wann immer möglich, den Dialekt verwenden. Damit geben sie in Bezug auf die hochdeutsche Sprache unbewusst negative Bilder an ihre Schüler weiter, die nach und nach eine ablehnende Haltung dieser Sprache gegenüber entwickeln. Dabei müssten manche Lehrpersonen im Umgang mit dem Hochdeutschen mehr Selbstvertrauen gewinnen und so durch ihr Vorbild die Freude an der Sprache an die Kinder weiter­geben. Voraussetzung dafür ist freilich eine Lehrerbildung, die der Sprache im Fächerkanon der Pädagogischen Hochschulen einen zentralen Platz zuweist und die den Studierenden die Einsicht in die Wichtigkeit, Schüler möglichst früh konsequent an die hochdeutsche Sprache heranzuführen, vermittelt. Nur so kann in der Deutschschweiz, gleichsam über die Schule, allmählich ein kollek­tives Umdenken stattfinden, kann sich die Abwehrhaltung vieler Deutschschweizer gegenüber dem Hochdeutschen verändern. Das ist auch dringend notwendig, ist doch die Schwellensprache für die berufliche Qualifikation in der Deutschschweiz nach wie vor Hochdeutsch, wie der Basler Sprachwissenschaftler Georges Lüdi zu Recht festhält.

Mario Andreotti, Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Buchautor, St. Galler Tagblatt, 25. Juli 2018