Freya in sinkendem Boot

Es war einmal ein Walross Namens Freya. Das schwamm fröhlich in nördlichen Meeren und Gewässern rum. Da es von neugierigem Wesen war, was Walrosse im Allgemeinen so sind, dehnte es seine Reisen immer mehr aus und kam irgendwann in den Hafen von Oslo, der Hauptstadt Norwegens.

Dieser Hafen war für die neugierige und auf Gemütlichkeit bedachte Walross-Dame ein Paradies. Denn überall waren lustige, kleine Eisschollen in hübscher weisser Farbe verteilt. Fast so, wie in ihrer nördlichen Heimat, wo Freya früher von weisser Eisscholle zu weisser Eisscholle schwamm. Und diese Eisschollen hier mussten von Freya natürlich alle bestiegen werden.

Leider waren diese Eisschollen erstens nicht so richtig kühl und zudem meist sehr unstabil. Bei einigen Versuchen Freyas, diese Eisschollen in Oslo mit viel Schwung und einer gehörigen Portion Eleganz zu entern, zerbrachen sie oder gingen einfach unter. Aber zum Glück waren da ja noch ganz viele solcher Schollen und Freya machte sich daran, ihre Fertigkeiten im Entern zu üben und zu perfektionieren.

Die einen Zweibeiner im Hafen fanden das sehr lustig, andere überhaupt nicht. Letztere waren wohl die Besitzer dieser seltsamen Eisschollen. Freya wunderte sich, dass diese Zweibeiner sich fürchterlich aufregten, wenn unter ihr eine Eisscholle kippte oder gar versank. Denn in ihrer Heimat gab es ja ganz viele Eisschollen. Die Zweibeiner konnten sich doch dort einfach eine neue holen.

Freya auf ihren künstlichen Eisschollen

Die Zweibeiner bringen Freya in höchste Gefahr

Die Zweibeiner, welche Freyas Übungen an den Eisschollen im Hafen Oslos lustig fanden, wurden aber mehr und mehr. Sie kamen immer näher und schauten Freya durch eckige Geräte oder mit langen Linsen an, machten Aufnahmen oder filmten sie. Das wiederum fand Freya lustig und legte mit ihrer Akrobatik noch etwas zu. Damit die Zweibeiner, die Freude an ihrer Show hatten, auch etwas geboten bekamen. Freya erkannte nicht, dass sie sich damit in höchste Gefahr brachte!

Unter den Zweibeinern gab es nämlich noch eine dritte Gruppe. Das waren jene, welche sie als gefährlich betrachteten und als ein Risiko für die Umwelt einstuften. Welche nicht wollten, dass Freya weiterhin im Hafen Spass mit ihren «Eisschollen» hatte und sich öffentlich darum sorgten, dass sie irgendwann auch einen Zweibeiner verletzen könnte! Denn die Fischereidirektion störte sich vor allem daran, dass Leute zu Freya ins Wasser gehüpft waren und dem Tier mit Kindern am Ufer sehr nahegekommen waren, um Fotos und Videos zu machen.

Die dritte Gruppe setzte sich schlussendlich durch und beschloss, dass das gutmütige und neugierige Walross Freya für immer in die ewigen Walross-Gründe eingehen soll. Und so kam es, dass die norwegische Fischereidirektion das freundliche, verspielte Walross Freya am 14. August 2022 einschläfern liess.

«Leben und Sicherheit von Menschen muss vorgehen»

Man könne verstehen, wenn die Öffentlichkeit nun bestürzt sei, sagte nachher die Fischereidirektion. Aber obwohl der Tierschutz ein hohes Gut sei, müsse das Leben und die Sicherheit von Menschen vorgehen. Dabei wollten die Behörden noch im Juli 2022 die Einschläferung unbedingt vermeiden. Und Experten hatten dringend geraten, dass für Freya eine Ruhezone eingerichtet werden sollte, damit sie ihre Tagesration von 20 Stunden Schlaf halten könne. «Walrosse sind wilde, geschützte und auf der Roten Liste stehende Tiere. Das bedeutet, dass die Tötung die letzte Option ist», hiess es denn auch damals in einer Mitteilung. Kurze Zeit später sah für Freya leider alles ganz anders aus.

Leider eine Geschichte ohne Happy End

Wäre diese Geschichte erfunden, hätte ich mir ein Happy End ausgedacht. Aber sie ist nicht erfunden, sondern im Sommer 2022 tatsächlich so passiert. Freya musste sterben, weil unvernünftige Menschen sich nicht an Anweisungen hielten, sich zu nahe an Freya heranwagten und grundsätzliche Abstandsregeln missachteten. Für die Dummheit und Ignoranz dieser Menschen musste die freundliche, verspielte und, mit ihren 600 kg Gewicht, für die Boote im Hafen von Oslo leider etwas zu schwere Freya mit ihrem Leben bezahlen.

Lebe Wohl Freya. Ich hoffe, dass Du im Walross-Himmel jede Menge Eisschollen zum Besteigen findest. Und dass Du in Albträumen die Menschen heimsuchst, welche Deinen Tod verursachten. Setze Dich mit Deinem ganzen Gewicht im Schlaf auf sie und nimm ihnen die Luft zum Atmen. Damit diese dummen und egoistischen Menschen noch lange ihr schlechtes Gewissen plagen wird. Falls sie denn überhaupt eines haben…

Matthias Horber, August 2022